Cholera in Reinsen im Jahre 1849

Ein Aufsatz von Dr. Klaus Bargheer aus Reinsen

Reinsern wird Schulbesuch in Heuerßen untersagt

Das Stichwort “Reinsen“ bei ebay ergibt unzählige Angebote für „Reisen“ in alle Welt, aber neulich auch einen richtigen Treffer. Und was für einen: Das Originalschreiben der „Fürstlich Schaumb.-Lipp. Regierung, Abteilung für das Innere“ an das Amt Stadthagen vom 29. August 1849. Darin wird das Amt aufgefordert, den Kindern aus Reinsen den Schulbesuch in Heuerßen zu untersagen. Wie konnte es zu einer solch ungewöhnlichen Anordnung kommen?

Die Recherche dazu fördert unglaubliche Not zutage ...

Die Recherche dazu fördert unglaubliche Not zutage, wie wir sie uns heute, 165 Jahre später, nicht mehr vorstellen können. Dabei fahren wir täglich an den Grundstücken vorbei, auf denen sich damals diese Dramen zugetragen haben.

Alles begann mit Johann Gebeler, der mit Ehefrau und zwei Kindern als Einlieger auf Nr. 3 in Bückeburgisch Reinsen lebte. Er war der uneheliche Sohn eines preußischen Soldaten und einer Habrihausenerin und trug deshalb den für Reinsen untypischen Nachnamen. Er verdingte sich als Tagelöhner und war im Sommer 1849 von seinem 26. Einsatz als Hollandgänger zurückgekehrt, aus einem Ort, in dem die Cholera herrschte. Er hatte sich wohl dort angesteckt. Er sei nur „etwa 10-11 Stunden krank gewesen“ und starb am 24. Juli 1849 mit 50 Jahren an „Schlagfluß, angeblich Cholera, und der Brechruhr“. Dem maß man zunächst noch nicht so viel Bedeutung bei. Drei Wochen später überstürzten sich jedoch die Ereignisse.

In unmittelbarer Nachbarschaft häuften sich die Fälle von Brechruhr. Weitere 14 Personen verstarben innerhalb von 4 Wochen daran. Allein am Freitagvormittag, dem 24.8.1849, wurden auf dem Heuerßer Friedhof 6 Choleraopfer beerdigt. Die extrem kurzen Krankheitsdauern von selten mehr als einem Tag waren Pastor Friedrich Billius im Kirchbuch eine besondere Bemerkung wert. Man wird den Menschen beim Sterben zugesehen haben können und das mit der Angst, bald selbst der Nächste zu sein.

Besonders heftig hatte die Cholera die Höfe Nr. 1 und Nr. 11 getroffen.

Abb.1: Reinsen Nr.1: Drei Choleratote
Abb.1: Reinsen Nr.1: Drei Choleratote

 

Auf Nr. 1 verstarben daran Engel Söhlke, geb. Wehmhöfer, die Ehefrau des Colons mit 38 Jahren, ihr Schwager der Leibzüchter Hans Bruns mit 49 Jahren und der Einlieger und Schweinehirte Johann Katze mit 40 Jahren. Auch Engel Söhlkes Stiefvater, der Interimswirt auf der Wehmhöferschen Schmiede in Reinsen Nr. 10 verstarb an der Seuche.

Die Familie Freise aus Reinsen Nr. 11 traf es noch schlimmer. ...

Die Familie Freise aus Reinsen Nr. 11 traf es noch schlimmer. Der Hof hatte sich noch bis vor kurzem wegen Überschuldung in der Äußerung befunden. Der älteste 32 jährige Sohn Friedrich Freise war zwar nur Tagelöhner, sah aber jetzt endlich die Chance, den Hof wieder auf Vordermann zu bringen. Da starb zunächst seine Tochter Anna mit nur 4 Jahren an der Cholera. Ihr folgte wenige Tage später seine Stiefmutter Engel Freise, geb. Homeier, mit 56 Jahren. Auch das Einliegerehepaar, das auf der Stätte wohnte, der Schweinehirte Johann Baake und seine Frau Catherine wurden von der Cholera dahingerafft. Dann erkrankten seine Frau und der 5 jährige Hoferbe, beide überlebten. Die Stiefmutter seiner Frau aus Probsthagen kam, um der Familie zu helfen. Diese Hilfe wurde ihr zum Verhängnis. Pastor Billius schrieb:

„Die verehelichte Kochs Nr.22 in Probsthagen war den 28. August des Jahres zur Pflege ihrer an der Cholera erkrankten Stieftochter – verehelichte Freise Nr. 11 in Bückeburgisch Reinsen und deren eben 5 jährigen Sohn gekommen, wurde den 31. August von der nämlichen Krankheit befallen und starb schon den 1. September. Auch ihr Ehemann der Schuster Kochs Nr. 22 in Probsthagen ist daselbst etwa 8 Tage später an der Cholera gestorben.“

Abb 2: Reinsen Nr. 11, 6 plötzliche Todesfälle in nur 7 Wochen
Abb 2: Reinsen Nr. 11, 6 plötzliche Todesfälle in nur 7 Wochen

 

Und wenn das nicht alles schon genug gewesen wäre, starb am 12. Oktober 1849 auch noch der 32 jährige Hoffnungsträger Friedrich Freise an „Nervenfieber“ und „Brustkrankheit“. Die Bezeichnungen Nervenfieber und Fleckfieber wurden häufig synonym verwendet und standen für Thyphus. Aber wie wollte man damals Thyphus und Cholera sicher voneinander unterscheiden? Mit Brustkrankheit wurde häufig eine allgemeine Auszehrung umschrieben. Demnach könnte Friedrich Freise möglicherweise auch an der Cholera verstorben sein.

Wie viel Elend in einem Haus: 6 plötzliche Todesfälle innerhalb von nur 7 Wochen.

Tabelle: Choleratote aus Reinsen 1849

An Cholera verstorben Todestag Todesort Beruf Alter Krankheitsdauer
Johann Friedrich Christoph Gebeler 24.07.1849 B-Reinsen. Nr. 3 Tagelöhner
Einlieger
50 J. 10 – 11 Std.
Engel Marie Sophie Söhlke
geb. Wehmhöfer
15.08.1849 B-Reinsen Nr. 1 Ehefrau des Colons 38 J. 24 – 26 Std.
Johann Friedrich Baake 15.08.1849 B-Reinsen Nr. 11 Schweinehirte
Einlieger
77 J. 24 – 28 Std.
Hans Heinrich Christoph Seebaum 16.08.1849 B-Reinsen Nr. 10 Schmied
Interimswirt
63 J. 30 Std.
Johann Heinrich Fischer 21.08.1849 B-Reinsen Nr. 5 Unehelicher Sohn 4 J. 14 Std.
Engel Marie Battermann
geb. Steffen
22.08.1849 B-Reinsen Nr. 5 Ehefrau
Einlieger
47 J. 24 Std.
Hans Heinrich Bruns 22.08.1849 B-Reinsen Nr. 1 Leibzüchter 49 J. 14 Std.
Johann Carl Heinrich Katze 22.08.1849 B-Reinsen Nr. 1 Schweinehirte 40 J. 13 Std.
Anna Sophie Freise 22.08.1849 B-Reinsen Nr. 11 Tochter 4 J. 10 Std.
Catharine Sophie Baake 22.08.1849 B-Reinsen Nr. 11 Ehefrau
Einlieger
73 J. 16 Std.
Engel Marie Sophie Freise
geb. Homeier
28.08.1849 B-Reinsen Nr. 11 Witwe 56 J. 7 – 8 Tage
Hans Heinrich Schweer 01.09.1849 H-Reinsen Nr. 5 Lehrling 16 J. 15 – 16 Std.
Justine Wilhelmine Koch 01.09.1849 B-Reinsen Nr. 11 Ehefrau 39 J. 16 – 17 Std.
Anne Engel Marie Kramer
geb. Tönebein
06.09.1849 H-Reinsen Nr. 9 Witwe 70 J. 23 – 24 Std.
Hans Heinrich Kramer 11.09.1849 H-Reinsen Nr. 9 Stellmacher 35 J. 3 Tage

 

B-Reinsen = Bückeburgisch Reinsen
H-Reinsen = Hessisch Reinsen

Nachdem sich die Fälle von Brechruhr/Cholera gehäuft hatten, ...

Nachdem sich die Fälle von Brechruhr/Cholera gehäuft hatten, wurde das Amt in Stadthagen eingeschaltet. Der Amtsphysikus Dr. Galland erstattete am 23.08., 29.08.und 07.09. Berichte zur Lage in Reinsen an die Bückeburger Regierung.

Er führte aus: „Es ist Thatsache, daß meist nur Tagelöhner zu Reinsen von der Cholera befallen werden, von deren notorischer Armuth mich zu überzeugen, ich nur zu oft Gelegenheit gehabt habe.“ Es wurden Aufklärungsschriften verteilt, die auf hygienische Maßnahmen fokussieren: „Der Körper muß reinlich gehalten werden und gut und warm bekleidet sein, in welcher Beziehung eine flanellene Binde um den Unterleib empfehlenswert ist…. Die Wohn- und besonders die Schlafzimmer müssen öfter gelüftet werden und nie zu viel Menschen in einem und demselben Locale länger und zusammengedrängt sich aufhalten, da überall jeder Dunst sich entschieden schädlich gezeigt hat.“ Ferner wurden empfohlen: Sich warm halten, Wärmflasche an die Füße, Tee trinken und „zeitiges ins Bett legen“.

Diese Maßnahmen haben sich als eindeutig nicht ausreichend erwiesen. Auch ist es fraglich, ob bei der Armut der Betroffenen so viele flanellene Binden zur Verfügung gestanden haben. Die Gemeinde Reinsen meldete denn auch am 24.10. nach Bückeburg, die Armen der Gemeinde seien „außer Stande die notwendige Medizin zu bezahlen.“ Selbst wollene Decken fehlten. Die wirksamste Maßnahme zur Eindämmung der Epidemie, nämlich die Isolierung der Erkrankten, war wegen der schieren Masse der Betroffenen und der beengten Wohnverhältnisse nicht konsequent möglich gewesen.

Die Krankheit breitete sich schnell aus. Auch Personen aus Heuerßen, Habrihausen, Obernwöhren, Byinghausen, Schöttlingen, Vornhagen, Riepen, Rehren und Rodenberg waren betroffen. Das Verwaltungsamt Rinteln berichtete am 12.09. von insgesamt 28 Erkrankten allein im hessischen Anteil der Gemeinde Reinsen, von denen 3 verstorben waren (s. Tabelle „Choleratote aus Reinsen 1849“).

Schreiben der Bückeburger Regierung

Bei den Maßnahmen, die eine noch weitere Ausbreitung der Erkrankung verhindern sollten, kommt jetzt das Schreiben der Bückeburger Regierung ins Spiel, das bei ebay zum Verkauf stand. Es steht dort:

An das Amt Stadthagen

Zur Verhütung einer weiteren Verschleppung der Cholera hält es die Regierung für erforderlich, daß den Kindern in Reinsen während der Dauer der Krankheit der Besuch der Schule in Heuerßen untersagt werde, welches das Amt deshalb anzuordnen hat.

Bückeburg, 29.8.1849

Fürstlich Schaumb.-Lipp. Regierung.
Abteilung für das Innere

Abb 3: Regierungsanordnung vom 29.08.1849
Abb 3: Regierungsanordnung vom 29.08.1849

Zeitweise wurde die Heuerßer Schule ganz geschlossen. ...

Zeitweise wurde die Heuerßer Schule ganz geschlossen. Die Verordnung vom 29.08., sieben Tage nachdem die Cholera-Todesrate in Reinsen ihren Höhepunkt erreicht hatte, spricht für eine noch akzeptable Prozessqualität des damaligen Regierungshandelns in unserem kleinen Duodez, auch wenn viele der ergriffenen Maßnahmen aus heutiger Sicht ungeeignet waren und keine gute Ergebnisqualität erreicht wurde. Heutige ministerielle Entscheidungen bei Gefahrensituationen erfolgen aber nicht automatisch schneller trotz ungleich besserer Kommunikationsmöglichkeiten. Als im Frühsommer in Westafrika die Ebola-Epidemie ausbrach, dauerte es bis zum Herbst bis endlich freiwillige Bundeswehrangehörige zur Hilfe geschickt werden sollten. Seit dem Winter steht die Isolierstation in Monrovia, aber Betten bleiben leer, weil die Epidemie längst abklingt. Deutsche Hilfe kam zu spät und hat die tausende Ebola-Toten nicht verhindert.

Wir meinten, dass dramatische Seuchen der Vergangenheit angehörten. In Zeiten multiresistenter Keime, unkritischem Antibiotikaeinsatz, globalisiertem Keimtransfer und nicht angepasster Hygiene können diese Geißeln der Menschheit jederzeit zurückkommen, nicht nur in Afrika.

Die Cholera-Epidemie von 1849 forderte in Reinsen am 11.09. den letzten Toten. Es gab in den Folgejahren weitere kleinere Choleraausbrüche in Schaumburg, so 1850, 1853, 1857 und 1866. Reinsen war davon nicht mehr betroffen.

 

Reinsen im Februar 2015
Dr. Klaus Bargheer


Quellennachweis:

  1. KH Schneider: Choleraepidemien in Schaumburg im 19. Jahrhundert. Lernwerkstatt Geschichte, Leibniz Universität Hannover, 2006.
  2. H. Pahlow, Dorfgeschichte Heuerßen – Kobbensen, General-Anzeiger-Verlag, Stadthagen, 1991.
  3. Staatsarchiv Bückeburg, Kopien der Heuerßer Kirchenbücher